Collage von Jürgen Kramer für seine Reihe „Die 80er Jahre“, Gelsenkirchen 1978 (Ausschnitt)
© Jürgen Kramer
Mit freundlicher Genehmigung von Heidi Kramer
Selbstbeschreibung von Jürgen Kramer aus dem Jahr 2007
Geboren 1948 in Gelsenkirchen. Jugendeinfluss Samuel Beckett. 1966 ff. Episoden mit Karl Marx und Befreiungsbewegungen. Ursprünglich naturwissenschaftliche Berufsperspektiven. Durch Einfluss des Absurden Theaters zur Kunstakademie. 1969 bis 1974 Studium der Freien Kunst an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Joseph Beuys, Meisterschüler. Beginn der Freundschaft mit Wolfgang Schoppmann, Felix Droese und Johannes Stüttgen. Während des Studiums zeichnerische Passion ins Unbehauste. Vietnam-Ausschuss, Gruppe revolutionärer Künstler (Ruhrkampf) mit Jörg Immendorff, Felix und Irmel Droese, Erinna König u.a. Ab 1970 jährliche Reisen in die französische Provence und zum Montagne Sainte-Victoire. Intensiver Kontakt zur Free International University (FIU) in Gelsenkirchen mit Johannes Stüttgen, Achim Weber und Siegfried Sander. Nach frühem außerparlamentarischen politischen Engagement zweiter existentieller Schwächeanfall durch politische kunstkritische Arbeit über die Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands (ARBKD, 1928 ff.) 1973-1977. 1977 Herausgabe der Dokumentationen zur Geschichte der revolutionären Kunst aller Länder und ab 1978 Redaktion und Herausgeber von Die 80er Jahre Nr. 1 bis 10/11 (Nr. 1 bis 3 unter dem Titel einige millionen). Gefördert durch und fördernd die New Wave, No Wave und Prägung des Begriffs ́Neue Welle ́. 1984 erste umfassende Ausstellung, gefördert durch die Krupp-Stiftung, mit Katalog Im Museum und Kunstverein Gelsenkirchen unter dem Titel Château Ste. Victoire. In den 1980er Jahren zeitweise Atelier in Essen. Dark Wave und Reisen nach Rom, Paris und New York (die Metropolen sind auch nicht klüger). Zahlreiche Ausstellungen u. a. bei Klaus Kiefer, Essen, Cora Hölzl, Düsseldorf, Siegfried Sander, Kassel, Produzentengalerie, Hamburg und nach der inneren Emigration 1998 bis 2002 Kunstverein Lippstadt und Galerie 20/21 in Essen. Seit Mitte der 1990er Jahre Protest gegen die unkünstlerischen Modetrends des Kunstmarktes mit den Mitteln einer ́heiteren ́ Kunst und Malerei (angeregt durch Friedrich Nietzsche). Arbeit am Paradigmenwechsel.
© Jürgen Kramer, 2007
Jürgen Kramer
Der Künstler Jürgen Kramer brachte zu Beginn des Jahres 1978 in Gelsenkirchen die erste Nummer eines New-Wave-Magazins heraus. Das 6-seitige, großformatige Pamphlet, durch dessen Umschlag eine Sicherheitsnadel gezogen war, trug den Titel einige millionen. Der Schriftzug aus ausgeschnittenen Buchstaben (wie man es prototypisch von den Schallplattenhüllen der Sex Pistols kennt) war ironisch zu verstehen und spielte auf die gesellschaftliche Marginal- und Außenseiterexistenz der Punks an. Jürgen Kramer nahm mit seinem Magazin allerdings ebenso eine Außenseiterposition ein. Für die erste Nummer hatte er den Künstler Werner Speis sowie die damals noch wenig bekannten, ehemaligen Joseph Beuys-Studienkollegen Felix Droese und Katharina Sieverding eingeladen, jeweils eine Seite im Heft zu gestalten.
Die nächste Nummer der Zeitschrift, die im April 1978 erschien, brach mit diesem künstlerischen Fokus. Ein Verhindern von Kontinuität bzw. Identität sollte dem neuen Jugendphänomen Ausdruck und Form verleihen, das sich nihilistisch und pessimistisch als eine Anti-Bewegung, als No Wave verstand. Während man die erste Nummer als Negation einer konventionellen Punk-Zeitschrift beschreiben kann, war die folgende Ausgabe affirmativ aufzufassen: ein ganz und gar typisches Fanzine – im handlichen DIN-A-5-Format war es das einzige fotokopierte Heft der Reihe und enthielt vorrangig Informationen über angloamerikanische Punk- und New-Wave-Gruppen.
Von historischer Bedeutung war die dritte, im August 1978 veröffentlichte Ausgabe. Hier tauchte auf dem schwarzen Umschlag in eckigen Buchstaben erstmalig der Schriftzug ́Neue Welle ́ auf. Der Hamburger ZickZack-Labelchef und Journalist Alfred Hilsberg griff diesen Titel ein Jahr später für eine dreiteilige Artikelserie in der Zeitschrift Sounds auf. Textzitate von Jürgen Kramer sowie Reproduktionen aus seiner Zeitschrift in Hilsbergs Artikeln belegen, dass dieser über die Aktivitäten des Gelsenkircheners im Bilde war.
Der örtliche Knotenpunkt der dortigen Szene befand sich in einer Baracke auf dem Schulhof eines Gymnasiums. Der ehemalige Beuys-Schüler Johannes Stüttgen, damals Lehrer an der Schule, veranstaltete hier eine wöchentliche Kunst-AG. Der sogenannte Erweiterte Kunstbegriff von Beuys, der Kreativität über das bloße produzieren von Kunstwerken hinaus propagierte, schuf eine offene Atmosphäre, in die die Aufbruchstimmung des Punk einströmte. 1978 hielten Schüler bzw. Mitglieder der Kunst-AG (die wenig später die Band Salinos gründeten) – durch einen England-Besuch mit Punk infiziert – einen ́Punk-Vortrag ́in der Baracke. Dieser verband das Gedankengut von Beuys mit der zugleich lustvoll und nihilistisch aufschäumenden Neuen Welle. Über den Vortrag berichtete Jürgen Kramer ausführlich in der dritten Ausgabe.
Für die nächste Nummer änderte er dann erneut Stil, Aufmachung und Umfang. Unter dem neuen Titel Die 80er Jahre erschien Ende 1978 ein dickes Portfolio, das eine Fülle von Materialien enthielt: Collagen unterschiedlichster stilistischer Ausrichtung, Dokumente zur New Wave aus verschiedenen europäischen Ländern, aus Amerika und aus dem Ruhrgebiet. Kramer interessierte sich dabei weniger für The Clash oder die Sex Pistols, sondern insbesondere für extremere Bands wie Throbbing Gristle, Pop Group oder SPK. Auch die kalifornischen Residents tauchen in seinem Fanzine auf, noch bevor man sie in der regulären Musikpresse in Deutschland wahrnahm. Durch Jürgen Kramers Vermittlung wurden die damals noch in Wuppertal ansässigen späteren Mitglieder der Düsseldorfer Band Der Plan auf die Residents aufmerksam. Sie spielten eine große Rolle für die stilistische und klangliche Entwicklung der Gruppe. Genauso wichtig waren die ebenfalls durch Kramers Zeitschrift vermittelten Kontakte zu kalifornischen Bands wie Monitor und zu dem Musiker Boyd Rice, der den Plan bald darauf in Düsseldorf besuchte und ihm von seiner Begegnung mit Martin
Denny berichtete, einem Gründungsvater der Exotica-Musik, die in der Folge im Kosmos des vom Plan begründeten Musiklabels Ata Tak eine nicht unerhebliche Rolle spielte.
Neben den vermittelten Musikeinflüssen ist wichtig zu wissen, dass Der Plan sich personell aus einem Bandprojekt mit dem Namen Weltende entwickelte, in dem Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt 1978 gemeinsam mit Jürgen Kramer agierten. Kramer musizierte ebenso gemeinsam mit Mona Lisa (Sylvia James), die mit Materialschlacht eine eigene wichtige Punk-Band der ersten Stunde hatte. 1979 gründete Kramer eine weitere Gruppe mit dem Namen Das 20. Jahrhundert – von der es leider keine Platten gibt.
Danach verlor Kramer sukzessive sein Interesse an der Neuen Welle. Deutlich wird das unter anderem mit der neunten Ausgabe seiner Zeitschrift. In dem kleinen, bibliophilen Büchlein ist auf Kunstdruckpapier kommentarlos eine Reihe von Kathedralen abgebildet. Das für Kramer mit Punk verbundene existentielle Hinterfragen der ́Leistungen ́ der Zivilisation und des modernen, aufgeklärten Lebens führte ihn in dieser Zeit zu einer intensiven Beschäftigung mit
Mythologien. 1980 erschien mit Sans Titre ein umfangreiches Buch, das dieses kulturgeschichtliche Interesse vorführt und mit Punk/New Wave-Aspekten verknüpft. Mit der ähnlich gelagerten, 1982 veröffentlichten Publikation Der Rabe sowie einer im Jahr zuvor in Essen gemeinsam mit Sylvia James durchgeführten Musikperformance opus posthum endete Kramers Engagement im Kontext der Neuen Welle. Danach widmete er sich nahezu ausschließlich der Malerei.
Dabei war Jürgen Kramer die künstlerische Arbeit stets wichtiger und dringlicher, als ́professionelle ́ Kontakte zur Kunstwelt zu pflegen. Der Kunstbetrieb schien ihm auch aus dem Grund vernachlässigungswert, da er über einen längeren Zeitraum von einem Sammler unterstützt wurde. Im Zuge dessen und nach Ende dieser Förderung nahmen überregionale Ausstellungsmöglichkeiten sukzessive ab und beschränkten sich in den Jahren vor seinem Tod mehr und mehr auf das Ruhrgebiet, bzw. auf seine Heimatstadt Gelsenkirchen. Aus einer gewissen Not heraus engagierte sich der weltgewandte Jürgen Kramer alsbald für Projekte, zu denen er eigentlich nicht wirklich stehen konnte. Dass er zwischen 2003 und 2008 als sporadischer Kurator am dortigen Forum Bergmannsglück Verbindungen zu ehemaligen Studienkollegen aktiviert hatte, die er zu Ausstellungen einlud, sollte sich für ihn selbst als zwiespältig erweisen. Auch hatte er gezögert, das Angebot zu einer thematischen Ausstellung über Verbindungen von Joseph Beuys zu Gelsenkirchen anzunehmen, die er 2010 dennoch unter dem Titel Im Spannungsfeld des erweiterten Kunstbegriffs realisierte. Seine Skepsis war berechtigt, denn 2021, zehn Jahre nach seinem Tod, fügte die im Ruhr Museum Essen stattgefundene Ausstellung Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys verschiedene Aktivitäten von Kramer, wie etwa sein Zeitschriftenprojekt zur Neuen Welle und sein Konzert opus posthum von 1981 bruchlos in den geistigen Zusammenhang von Joseph Beuys ein. Kramer stand Beuys zeitlebens jedoch skeptisch bis ablehnend gegenüber. Zu Lebzeiten kam es ihm stets auf das erforschen von Paradoxien und Spannungsfeldern an, die er – wie kein zweiter – gewillt war, auszuhalten. Sein existenzialistisch ausgerichteter Kunstanspruch und seine weitgespannten kulturellen und geistigen Interessen harren noch einer adäquaten Würdigung.
© Thomas Groetz, Berlin 2002/2022