Foto der 1976 gegründeten Punk-Band „Neat“, aufgenommen vor dem Proberaum in Dortmund-Kamen, v.l.n.r.: Paul Eysenhauer (Bass), Uli Schmidt („Megick Dick“), später in der Reggae-Szene bekannt geworden als „Natty U“, Frank Lachmann alias „Ted“ (Keyboards), B.B. Parker (Schlagzeug), Martin Pfeiffer alias „Machina“ (Gesang) und Ralf Zeigermann alias „Reed“ (Gitarre), Dortmund 1978
Foto: © Sammlung Ralf Zeigermann
Neat wurde in Dortmund gegen Ende 1976 von Martin Pfeiffer (Gesang, Geige), Frank Lachmann (Keyboards) und mir (Gitarre) gegründet. Der Grund dafür war natürlich klar: im Radio wurde dann und wann diese neue Musik gespielt, die wir alle toll fanden. Ramones, Damned, Stranglers und Sex Pistols hießen diese neuen, aufregenden Bands. Und so etwas wollten wir dann auch machen.
Im Jahr darauf stießen der Bassist Paul Eysenhauer, Drummer Roland Laetsch und Gitarrist Uli Schmidt mit dazu. Durch Roland hatten wir Zugang zu einem ganz wunderbaren Proberaum, einer umgebauten Scheune auf einem Bauernhof in Kamen. Ich verließ die Band 1978 und wurde durch Chap T. Bayer ersetzt.
Die Jahre danach durchlief Neat mit teilweise wechselnder Besetzung diverse Inkarnationen als Modern Heroes und Neat II.
1987 verstarb Martin Pfeiffer und Uli Schmidt strebte eine Karriere als Reggaesänger „Natty U“ an.
© Ralf Zeigermann, 2021
Punk in Dortmund/Düsseldorf (1978-1980)
Franz Bielmeier hatte damals – also etwa um 1977 herum – winzige Kleinanzeigen in der Sounds plaziert, in denen er das “erste und einzige” deutsche Punk-Fanzine “The Ostrich” anpries. Ich bestellte bzw. abonnierte den “Ostrich” gleich und verfasste später auch einige Artikel dafür. So bin ich mit Franz in Kontakt gekommen und wir haben dann auch öfter telefoniert. Meist über Stunden, was unsere Mütter wahrscheinlich zur Verzweiflung getrieben haben muss.
(anmerkung von franz bielmeier: direkt beim erstkontakt stellte sich heraus, dass ralf ein eingeschworener velvet-underground-fan war. er schickte postwendend den bis dato am besten layouteten ostrich-artikel, natürlich über velvet underground, mit nachgemalter schreibmaschinenschrift und kunstvoll angesengten fotos etc. meine mutter war bereits seit 1974 tot, aber das spielte, wie überhaupt persönliche vorgeschichten und familiäre bereiche, beim zusammentreffen mit gleichgesinnten damals keine rolle. die ungeschriebene faustregel „je schräger, desto cooler“ galt unter uns milchgesichtern bezüglich der herkunft und war teil eines neu entstehenden weltbilds, an dem wir anfangs alle begeistert und aktiv gewerkelt haben.)
In Dortmund war zu der Zeit nicht viel los. Es gab den Musikkeller, in dem Folk und “progressive Musik” gespielt wurden, das Jara mit ausschließlich Disco und vielleicht noch das Masterpiece in Dortmund-Brackel, wo aber auch nur Genesis, Pink Floyd, ELO und dieser ganze Quatsch gespielt wurden. Viel mehr war da nicht. Aber so war es zu der Zeit wohl noch bundesweit; man brauchte nur kurze Haare zu haben, vielleicht eine Lederjacke mit einem Clash-Badge tragen und konnte sicher sein, aggressiv angemacht oder verprügelt zu werden. An lange Haare (“Gammler”) hatte sich das Volk ja nun gewöhnen müssen; aber dass da auf einmal kurzhaarige Jugendliche mit seltsamen Klamotten auftauchen, war nicht nur dem einfachen Bürger höchst suspekt, sondern – und gerade auch – der “alternativen Szene”, die in uns gleich eine neue Nazi-Bedrohung sah. Kein Wunder, dass “Hippies” das Feindbild der Punk-Bewegung wurden.
Franz rief mich dann irgendwann einmal an und erzählte, die Sounds wolle etwas über deutschen Punk bringen, ein Treffen wäre im Ratinger Hof organisiert und ob wir – also Neat – nicht auch Lust hätten, daran teilzunehmen. Ich sagte zu und so fuhren wir im Januar 1978 mit der halben Bandbesetzung (Machina, Ted, ich) mit dem Zug nach Düsseldorf, wo Franz uns mit seinem Mofa am Bahnhof abholte. Hinten auf dem Mofa sitzend, verbrannte ich mir erstmal den Fußknöchel am Auspuff und dann wurden wir an einer Kreuzung von einem Verkehrspolizisten angehalten (auf dem Gepäckträger eines Mofas zu sitzen, war verboten) und ich musste den Rest des Weges allein zu Fuß gehen. Franz fuhr derweil zurück und holte nach & nach Machina und Ted ab, wobei er weitere mögliche Begegnungen mit der Polizei vermied.
(anmerkung von franz bielmeier: ralf hat das dramaturgisch genial aufbereitet. ich erinnere mich an eine neat-abholungsfahrt mit meinem hellblauen mofa „wondracek“vom düsseldorfer hauptbahnhof an einem „normalen“ samstagabend, wohl im frühjahr 1978. wir gingen schwatzend durch die fußgängerzone und ich knatterte im schrittempo in einem pulk netter, enthusiastischer geschmacksgenossen aus dortmund, die ich einzeln über die tausendfüßler-hochbrücke am jan-wellem-platz in die altstadt speditiert habe.)
Der Ratinger Hof war ein Erlebnis, so etwas kannten wir natürlich überhaupt nicht. Wir empfanden ihn als unglaublich modern. Nach und nach trafen Charley’s Girls, Male und die TV Eyes ein. Wir waren praktisch “unter uns” – ein Haufen fröhlicher Punks, eigentlich Jugendliche, fast noch Kinder, die durch ihr Musik- und Designinteresse gleichgesinnt waren.
Es war ein wunderbarer Tag. Alfred und Sabine tauchten auf, wir wurden interviewt, danach ging es in dieses Jugendzentrum irgendeiner Kirchengemeinde, wo wir Bands jeweils 2-3 Stücke gespielt haben, um unsere Songs den Sounds-Journalisten vorzuführen. Es sollte alles recht schnell gehen, da der Pfarrer von dieser Veranstaltung nicht wusste und wohl auch nichts wissen durfte. Ich musste etwas Gefluche über mich ergehen lassen, als mir eine Gitarrensaite riss, da diese Verzögerung wohl nicht eingeplant war.
Was geblieben war, war der Eindruck, dass man nun etwas hatte, wo man hingehen konnte – auch wenn Dortmund und Düsseldorf mit Zug oder Auto gut eine Stunde entfernt waren. Aber zu der Zeit war der Ratinger Hof der einzige Ort im Ruhrgebiet, wo wir uns amüsieren konnten, ohne Gefahr zu laufen, von irgendwelchen Prolls die Hucke voll zu kriegen. Das wurde später dann natürlich auch anders, nachdem die Rocker den Ratinger Hof entdeckt hatten.
Neat hatte etwas später einen Gig im Goethe-Gymnasium in Dortmund. Das Goethe war ursprünglich ein reines Mädchengymnasium und erst seit wenigen Jahren eine gemischte Schule. Dort tauchten tatsächlich auch Franz, Janie, Markus und Peter Stiefermann auf, die nach dem Gig bei mir im Elternhaus übernachtet haben (Markus war vorher schon verschwunden). Ich habe die drei dann am nächsten Morgen – ich hätte eigentlich zur Schule gemusst, aber die habe ich an jenem Samstag besser ausfallen lassen – mit Bus und Bahn zum Bahnhof gebracht. Wie sie dann auf der Autobahn gelandet sind und von der Polizei aufgegriffen wurden, weiß ich nicht mehr, aber der Nordpol-Text stammt ja von diesem Ereignis (Es gab mal eine Kneipe namens “Nordpol” in Dortmund – ob sie vielleicht dort auch noch gelandet sind? Man weiß es nicht.). Und einer der drei, ich habe Janie schwer in Verdacht, hat mir meine Single von Max Wall “England’s Glory” (STIFF BUY 12) geklaut, worüber ich heute noch sauer bin.
(anmerkung von franz bielmeier: janie hatte die single! ich hab sie damals bei ihm gesehen! allerdings wusste ich nicht, dass sie von dir geklaut war. es hätte eigentlich besser zu peter stiefermann gepasst, ein andenken an den ausflug nach dortmund mitgehen zu lassen, aber man lernt scheinbar nie aus … als wir versuchten, nach d-dorf zurückzutrampen, wurden wir von drei r.a.f.-paranoiden polizisten an der autobahnauffahrt kontrolliert. bereits während der feststellung unserer personalien frohlockten wir untereinander über dieses kleine spannende intermezzo, das uns inspirationen aus dem polizeijargon lieferte, die wir schnurstracks zu einem text für ein charley’s-girls-stück verarbeiteten. wären wir daraufhin noch an einer kneipe namens „nordpol“ vorbeigekommen, hätte uns peter stiefermann mit 100%iger sicherheit hineingeschleppt und wir wären freudig gefolgt, weil wir seit der begegnung mit der autobahnpolizei wussten, dass „nordpol“ negativ bedeutet. wir hätten uns nicht entgehen lassen, eine kneipe, die wie ein stück von uns hieß, zu besichtigen. aber leider war dem nicht so und wir ahnten bis heute nichts davon.)
In Dortmund gab es punkmäßig, wie schon geschrieben, nicht viel. Neat hatte meist Auftritte in Schulen oder auf “Festivals” (ich kann mich noch gut an dieses Open-Air-Dings erinnern, wo die Bühne die Ladefläche eines Sattelschleppers war, oder als wir auf einer Geburtstagsparty im Wohnzimmer einer WG gespielt haben), ansonsten aber meist außerhalb von Dortmund. Ich glaube, der erste Punkgig einer englischen Band war wohl 1978(?) der von Ultravox im Jara (ausgerechnet in diesem Disco-Schuppen!), wo uns Punks aber auch gleich mit Rausschmiss gedroht wurde, als es etwas lauter und ruppiger wurde. Dr. Feelgood, Patti Smith und John Cale haben mal in den Westfalenhallen gespielt, aber das war ja kein richtiger “Punk”. Es gab sonst absolut nichts in Dortmund. Eine einzige kulturelle Einöde – von der linken, alternativen Szene abgesehen, die ihre eigenen Bands hatte, etwa “Art Fair” oder “Twilight Orchestra”, und hektographierte Magazine herausbrachte mit Titeln wie “Innisfree” oder “Hobo Tongue”.
Etwas besser wurde es Anfang der achtziger Jahre, wir hatten nämlich das “Haus Lessing” für uns okkupiert. Das Haus Lessing war eine Kneipe im verrufenen Dortmunder Norden (Prostitution, Verbrechen, “Ausländer” usw). Der Wirt dort war ein einäugiger, recht kleiner, humpelnder Mensch, der ständig eine Lederschürze trug. Eigentlich fehlte nur noch der Papagei auf der Schulter, der das Bild komplett gemacht hätte. Das Haus Lessing war im vorderen Bereich eine ganz normale Kneipe – Theke, Tische, Stühle – hatte aber weiter hinten einen “Festsaal” angegliedert, der so gut wie nie benutzt wurde. Dieser etwas zwielichtige Wirt erlaubte uns jedenfalls, den “Saal”, der lediglich ein etwas größerer Raum war, kostenfrei für unsere Zwecke zu benutzen. Dort trafen wir Dortmunder Punks uns fortan immer an den Wochenenden, stellten einen kleinen Philipps-Cassettenrecorder auf, tanzten Pogo und holten Getränke vorn an der Bar. Getrübt wurde unser Vergnügen lediglich durch die Tatsache, dass der “Saal” noch eine Hintertür zum Innenhof hatte. Es war nämlich so, dass vorn an der Theke auch einige Prostituierte ihren Geschäften nachgingen. Dann und wann bahnte sich eine etwas ältere, dickliche Dame mit ihrem ebenso alten und dicklichen Freier im Kielwasser einen Weg durch unsere tanzende Masse, um draußen im Hof ihren unaussprechlichen Geschäften nachzugehen.
Wenige Jahre später gab es dann auch Orte in Dortmund, wo man hingehen konnte. Das “Old Daddy” zum Beispiel, aber das war zumindest für mich viel zu spät. Für mich war Punk seit spätestens 1980 vorbei; eigentlich gab es Punk in Deutschland nur 1977. Alles danach ist schon Post-Punk. Und das Haus Lessing wurde irgendwann einmal abgerissen, womöglich zusammen mit dem Wirt mit der Lederschürze, den wir immer liebevoll “Matschauge” genannt haben.
© Ralf Zeigermann, 2021
© Anmerkungen von Franz Bielmeier, 2021