Dirty Needs

Konzert der „Dirty Needs“ im Punkhouse, v.l.n.r.: Trevor Watkins und Andy Axman, Berlin 1977 (Ausschnitt)

Foto: © Archiv Trevor Watkins

Am Ende des Sommers 1977 kam ich von einer Jugendgruppenfahrt nach England zurück nach Berlin und wollte nur eins – Punk-Rocker werden! In London hatte ich Kids gesehen, die ganz anders aussahen, als die plötzlich sehr langweilig wirkenden Hippies. Das traf sich gut, denn die waren meistens älter als man selber oder gar Eltern – und die verachten zu können, war schon mal gut fürs eigene Ego. Auf der Kanalfähre hatte ich mir spontan die Matte abgeschnitten, was erfolgreich für Entsetzen bei Familie, Freunden und in der Schule sorgte. Bald darauf lernte ich auf dem Flohmarkt am Klausener Platz Burkhard, den Zensor, kennen, der dort aus einem Bauchladen Independent-Singles verkaufte – und Jäckie Eldorado, der orangefarbene Polka-Dots auf blondierter Kurzhaarfrisur trug. Überhaupt stellte ich fest, dass es noch ein paar mehr Irre von meiner Sorte gab, und die trafen sich im Punk-House am Leniner Platz oder bei den Punk-Konzerten im Kant-Kino. Das erste Konzert, das ich gesehen habe, waren „The Damned“ im Herbst ’77 und es war überwältigend. Von da an kannte man sich, denn die Szene war sehr überschaubar und bestand im Kern aus vielleicht hundert Leuten. Die meisten waren über Zwanzig und hatten es einfach satt, sich mit ellenlangen Rockepen zududeln zu lassen und immerzu nett und friedlich zu sein, aber es gab auch eine jüngere Clique – viele von ihnen aus Spandau und alle so zwischen 14 und 16, also genau in meiner Altersgruppe. Wir waren eine krasse Minderheit und hatten ziemlich Spaß daran. Alle hassten uns und wir hassten alle anderen. Befreiend! Befreiend war auch der DIY-Aspekt des Ganzen: Da es so gut wie unmöglich war, an Klamotten aus der Kings-Road zu kommen oder diese zu teuer waren und man vom kargen Taschengeld lieber Platten kaufen wollte, musste man alles selbst machen: die Klamotten, die Frisuren, die Fanzines und natürlich auch die Musik. Und die war plötzlich für alle spielbar. Man brauchte einfach nur ein Instrument, eine möglichst rotzige Attitüde und einen guten Bandnamen – der Rest kam dann schon. Und wenn man irgendwann mal rudimentären Musikunterricht gehabt hatte, lernte man schnell ein paar Töne runterzuschrubben, auf Trommeln rumzudreschen oder in ein altes Tonbandmikrofon zu grölen. Allerdings erblickte kaum eine dieser Bands das Licht einer Bühne. Es gab zu dieser Zeit legendäre Bands, die noch nie jemand gehört hatte – bei manchen war nicht mal sicher, ob sie überhaupt Musik machten oder eher nur planten, das irgendwann mal zu tun. Interessanter waren aber die Berliner Punk-Bands, die tatsächlich spielten, zu vorderst PVC, die den Weg für alle anderen ebneten. Im „Punk House“ gab es eine Art schwarzes Brett, auf dem Kontakte vermittelt und Sachen verkauft oder getauscht wurden. Daran hing eines Abends Anfang 1978 ein Zettel, auf dem sinngemäß stand: „Punk-Band mit Auftritten sucht Bassisten. Bitte am Tresen melden!“. Ich meldete mich. Das war ziemlich dreist, denn ich konnte weder Bass spielen, noch besaß ich einen. Ich konnte ein bisschen Gitarre schrammeln, aber Gitarrenspieler gab es viele und die meisten waren besser als ich. Bassist wollte kaum einer sein und das war meine Lücke. Ich wusste, dass der Bass einfach erst mal die Grundtöne der Akkorde spielt und ein Klassenkamerad von mir hatte einen alte Framus-Bass, den er nicht benutzte, weil Bass ohne Band einfach langweilig war. So kam ich zu den DIRTY NEEDS. Der Sänger, Trevor Watkins, und der Gitarrist, Andy Axeman, waren Engländer, die es mit der Armee nach West-Berlin verschlagen hatte und der Schlagzeuger Uwe Hoffmann wohnte eine Straße weiter von meinem Elternhaus. Alle waren ein paar Jahre älter als ich, aber erst mal war das scheinbar egal. Der eigentliche Grund dafür war, dass die DIRTY NEEDS einen Auftritt als Vorband von XTC im Kant-Kino in Aussicht hatten und deswegen wirklich dringend irgendwen am Bass brauchten, der wenigstens irgendwie mitspielte und nach Punk aussah. Wir probten im Keller einer Halbruine am Axel-Springer-Haus direkt an der Mauer. Im Flur gab es einen Stromzähler, der für eine Mark eine Stunde Energie lieferte. Wenn kein Kleingeld mehr da war, gingen Licht und Verstärker einfach aus und die Probe war vorbei. Die DIRTY NEEDS hatten eigene Songs und natürlich war es viel authentischer einen richtigen englischen Sänger zu haben, als einen deutschen, der sich mit dem „th“ abmühte. Erst viel später fand ich heraus, dass das meiste einfach doppelt so schnell gespielte, geklaute Led-Zep-Licks waren, die mit Lou Reed-Versatzstücken gemischt wurden. Wir probten mindestens zweimal die Woche ab 23:00 Uhr und das gefiel meinen Eltern gar nicht. War mir aber egal. Plötzlich und unverhofft war ich, der 15-jährige Piepel, Mitglied einer richtigen Band, die richtig spielen konnte. Na gut – die anderen behandelten mich manchmal wie ein Kind, aber das war nicht so schlimm, denn ich lernte rasend schnell rasend viel über die wunderbare Welt des Rock ’n‘ Roll und hatte auf einmal ein ganz anderes Standing unter Gleichaltrigen. Es hätte kaum besser sein können – nur die Schule war lästig. Ein paar Wochen später fand tatsächlich der Auftritt im Kant-Kino statt, der allerdings leicht von Pleiten, Pech und Pannen überschatte war …

© Marius del Mestre, 2020